Vorbemerkung
„Man muss die Toten ausgraben, wieder und wieder, denn nur aus ihnen kann man Zukunft beziehen“, sagte Heiner Müller. Das Musiktheater Reise nach Comala ist ein Gespräch mit Toten.
Comala ist der Ort, an dem die Stimmen jener Unerlösten gespeichert bleiben, die unter der gewissenlosen Herrschaft Pedro Páramos mitsamt ihrem Dorf untergegangen sind. Auf die Bühne gebracht wird ein „Theater der Stimmen“, ein vielstimmig klingender Raum, der die Trennung zwischen Zuschauer und Bühne aufhebt.
Ausgangspunkt ist Juan Rulfos einziger Roman Pedro Páramo aus dem Jahre 1955, der heute als Klassiker der modernen lateinamerikanischen Literatur und als einsamer, kühn montierter Vorläufer des magischen Realismus gilt. Der ständige Wechsel der Erzählperspektive, die komplexe Montage der Handlungs- und Zeitebenen, die poetisch stilisierte Umgangssprache macht ihn zu einem einzigartigen und aktuellen Werk, in dem der Leser im vielstimmigen Gemurmel zum Mitschöpfer der Geschichte wird.
Gezeichnet wird das Bild einer rigiden, in einem System aus Abhängigkeit und Mittäterschaft erstarrten Gemeinschaft, die zur Erneuerung nicht fähig ist. Selbsttäuschungen und Illusionen verhindern jeden Kampf um Freiheit, denn eine Revolution ist nichts ohne die Einsicht in den eigenen Selbstbetrug.
Der Roman berührt zeitüberdauernde Themen und ist als ein Rückblick auf das Jahrhundert der Revolutionen und ihrer sozialen und individuellen Vorbedingungen zu lesen. Von der mexikanischen Revolution (1910-1917) bis zu den Studentenmorden von Iguala im September 2014 können Fragen nach der Veränderung gesellschaftlicher Systeme und der Kraft des Widerstands gestellt werden.
„Meine Musik war von Anfang an einerseits durch das Bestreben getrieben, Aspekte des Lebens, des Alltags und der Wirklichkeit als Ausgangspunkt zu nehmen und durch Abstraktionsprozesse in musikalische Form zu verwandeln. Andrerseits ist sie durch wiederkehrende Gespräche gekennzeichnet: mit Borges, Pessoa, Rothko, Wölfli, Arguedas, Rulfo… Dadurch, und vor allem durch diese ‚Gespräche mit Toten’, habe ich mich mit Themen befasst, die existenzielle Kerne berühren: die widersprüchliche, prismatische Identität des modernen Menschen und das Wort als Basis der Konstruktion von Welten. Besonders durch die Auseinandersetzung mit José María Arguedas und mit Juan Rulfo habe ich die in der Sprache verschlüsselte, unüberwindbare mythische Grundlage der lateinamerikanischen Kultur vernommen.“ (Germán Toro Pérez)
Die Musik Germán Toro Pérez‘ ist ganz dem Text Rulfos verpflichtet, dessen kultureller Schärfe, sprachlicher Vielfalt und poetischer Kraft. Erzählt wird aus einer Perspektive jenseits des Todes, die Zuschauer befinden sich in einem Grabsystem. Aus benachbarten Gräbern erklingen Gesangs- und Sprechstimmen, in Erinnerungsfragmenten erzählen sie die Geschichte des korrumpierten Dorfes unter der Alleinherrschaft des skrupellosen Pedro Páramo, dem Vater des zurückgekehrten Protagonisten Juan Preciado.
Die räumlich in Szene gesetzten Stimmen und ihre jeweiligen elektroakustischen Echos entfalten gemeinsam mit dem Instrumentalensemble und den elektronischen Klängen einen halluzinativen Hörraum um den Zuschauer herum. Die körperliche Präsenz der Stimmen, sichtbar oder unsichtbar, solistisch oder chorisch, führt den zunehmend desorientierten Zuschauer in die labyrinthische Welt Comalas und in einen Schwebezustand von Zeit und Raum.